Der soziale Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte seit den 1960er Jahren ein neues Profil. Gleichzeitig und in Wechselwirkung damit veränderten sich in der bundesdeutschen Gesellschaft Lebenswelten, Werte und Kultur grundlegend. In Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen und angesichts einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der einschlägigen Debatten verabschiedete der Protestantismus zentrale Denkdispositionen, die teilweise bis in die Weimarer Zeit zurückreichten, und richtete sich inhaltlich und organisatorisch mehrheitlich neu aus. Die Leitperspektive lotet das Gewicht des sozialen Protestantismus in den Debatten um die Sozialordnung der Bundesrepublik aus und untersucht die Kommunikationskanäle, über die protestantische Stimmen im Prozess der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung Einfluss nahmen.

Das Teilprojekt wird betreut von Prof. Dr. Christiane Kuller

Alternde Gesellschaft und demografische Herausforderung als Grundfragen der sozialen Gerechtigkeit im Spiegel der Debatten um die bundesdeutsche Sozialversicherung

Das Projekt wird bearbeitet von Marius Heidrich

Krisenszenarien der Bevölkerungsentwicklung reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Dennoch war der „massive“ Geburtenrückgang seit Mitte der 1960er Jahre eine wichtige Zäsur des demografischen Wandels in der Bundesrepublik. Die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats hing unmittelbar von stabilen demografischen Verhältnissen ab. Bereits der „Pillenknick“ der 1960er Jahre stellte die sozialstaatliche Ordnung auf die Probe. In den anschließenden Debatten wurden neben der bundesdeutschen Bevölkerungsentwicklung auch der Wandel von Geschlechterrollen, nationaler Identität und Gesellschaft thematisiert. Soziale, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen stellten normative Vorstellungen von sozialer Ordnung in der Bundesrepublik, sowie wie Leitbilder und implizite Annahmen über die Gesellschaft in Frage. Der Protestantismus hat sich an diesen Debatten wesentlich beteiligt.

Die Hypothese – der soziale Protestantismus wandelte sich vom distanzierten Sozialstaatskritiker zum aktiven Mitgestalter – erfordert das erneute Aufgreifen der Frage nach der Bedeutung des sozialen Protestantismus für den Sozialstaat, mit einem zeitlichen Fokus auf die 1970er und 1980er Jahre.
Ausgangspunkt ist die Rentenreform von 1957, die erstmalig eine sozialstaatlich institutionalisierte Auseinandersetzung über die Alterung der Gesellschaft mit sich brachte. Zukunftsprognosen, als fester Bestandteil des Finanzierungsplans, gingen zwar von einer steigenden Zahl von Rentenempfängern aus, machten jedoch auch deutlich, dass diese von einer proportional nachwachsenden Bevölkerung aufgefangen werden würden. Vernachlässigt wurde, dass die Geburtenzahlen bereits Mitte der 1960er Jahre rückläufig und somit die Annahmen stabiler Bevölkerungsverhältnisse falsch waren. Eine erste dezidierte demografische Debatte setzte Ende der 1970er Jahre ein. Das Ungleichgewicht zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern stellte das bundesdeutsche Renten- und Sozialversicherungssystem vor neue Herausforderung.

Drei weitere Debattenkontexte waren:

Der Status der ausländischen Wohnbevölkerung bzw. die Frage, inwieweit „Fremde“ in die Solidargemeinschaft eingebunden werden sollten. Zugehörigkeit und nationale Identität waren wesentliche Bestandteile dieser Debatten.

Der Wandel der Geschlechterordnung. Das veränderte Leitbild der Frau, von der Hausfrau und Mutter zur „Zuverdienerin“ und Erwerbstätigen, wirkte auch unmittelbar auf das Familienleitbild. Es galt die in Schieflage geratene Sozialpolitik zu Reformieren und damit ihre (Re)Stabilisierung herbeizuführen.

Solidarität wurde zu einem Kernbegriff der Debatten. Die Prämisse des Generationenvertrags sowie die gesellschaftliche Solidaritätsverpflichtung mussten neu gedacht werden.

Sozialer Protestantismus und der Wandel der Arbeitsgesellschaft

Das Projekt wird bearbeitet von René Smolarski

Als im Zuge gesellschaftlicher und wirtschaftspolitischer Veränderungen in den späten 1960er Jahren der weithin als Wirtschaftswunder angepriesene Nachkriegsboom (Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael) langsam abebbte, war dies auch mit massiven Wandlungen des Arbeitsmarktes verbunden, der wechselseitig wiederum Veränderungen der Gesellschaft bedingte. Neben der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen, der steigenden Teilzeitarbeit und dem bereits seit den 1950er Jahren anhaltenden Trend der Arbeitsverlagerung vom primären (Urproduktion) und sekundären (industrielle Produktion) in den tertiären Wirtschaftssektor (Dienstleitungen), führte dies vor allem zu einer stetig steigenden Arbeitslosenquote. Das in den zwei Jahrzehnten zuvor als besiegt geglaubtes und an die Weltwirtschafskrise der frühen 1930er Jahre erinnernde Phänomen der Massenarbeitslosigkeit, setzte besonders nach der ersten Ölpreiskrise von 1973/74 ein und wurde in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten durch eine Reihe zusätzlicher Faktoren (Globalisierung, Automatisierung etc.) noch verstärkt.

Auch Vertreter des sozialen Protestantismus sahen schon früh einen dringenden Handlungsbedarf, da man aufgrund der weiterhin anhaltenden hohen Arbeitslosenquote über das persönliche Schicksal des jeweils Betroffenen und den damit verbundenen finanziellen und psychologischen Leidensdruck hinaus auch eine tiefgreifende Gesellschaftskrise konstatierte, die zu einer Spaltung der Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende führe. Spätestens seit ihrer Synode 1977 in Saarbrücken hatte sich auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) dem Problem angenommen und mit der 1982 erschienen Denkschrift "Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen" eine umfassende Diagnose der Ursachen und möglichen Gegenmaßnahmen vorgelegt. Nicht nur diese Studie konstatierte einen umfassenden Wandel der Arbeitsgesellschaft, der sich nicht allein in der Arbeitsverlagerung, sondern auch in der prinzipiellen Veränderung der Arbeit selbst offenbarte. Neben der Entstandardisierung der Lebensläufe, der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und der damit verbundenen Erosion des "Normalarbeitsverhältnisses", betraf dies auch einen grundlegenden Wandel normativer und tradierter Geschlechterrollen.

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt widmet sich nun der Frage, in wie weit sich die Akteure des sozialen Protestantismus in die zeitgenössischen Debatten um den Wandel der Arbeitsgesellschaft einbrachten, wie sie diese beeinflussten und vor allem welche Kanäle sie nutzten, um an den politischen Umsetzung der in den Debatten diskutierten Maßnahmen partizipieren zu können.

Subsidiarität des Sozialstaates und kirchliche Diakonie

Das Projekt wird bearbeitet von Luise Poschmann

Nach ihrer Gründung im Jahr 1949 stand die Bundesrepublik Deutschland vor der Frage, wie sie künftig ihr schnell expandierendes wohlfahrtsstaatliches Handeln organisieren sollte. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur hatten Skepsis gegenüber einem allzu einflussreichen Staat hinterlassen und auf sozialpolitischem Feld standen nach 1945 beide Kirchen als Träger wohlfahrtlicher Aktivitäten bereit. Zu einem wichtigen Schlagwort in den rechtlichen und ethischen Debatten über die Organisation des bundesdeutschen Sozialstaates wurde der Grundsatz der Subsidiarität. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein zentrales Element der katholischen Soziallehre und zielt auf die Selbstbestimmung und Eigenleistung des Individuums und seines nächsten Umfeldes ab. So darf etwa der Staat dieser Maxime zufolge nur dort (und nur unterstützend) eingreifen, wo eine tiefere hierarchische Ebene (z.B. Bundesländer, Kommunen, Familien) nicht in der Lage ist, die erforderliche Leistung zu erbringen.

Die "Subsidiarität sozialstaatlichen Handelns" wurde im Nachkriegsdeutschland zum maßgeblichen Argument für die Verteidigung kirchlicher Organisationsinteressen und der massiven Expansion in Bereichen wie der Krankenhäuser, Jugendhilfe, Beratung und Heimen aller Art genutzt. Im europäischen Vergleich errang die kirchliche Wohlfahrtspflege in der BRD eine nahezu einmalige Stellung als Träger sozialstaatlich refinanzierter Einrichtung und als Erbringer sozialstaatlich refinanzierter Leistungen. Eine besondere Aufmerksamkeit erlangte das Subsidiaritätsprinzip in der Auseinandersetzung über das Bundessozialhilfegesetzes (BSGH) sowie über die Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG). Beide Gesetze verankerten einen Vorrang freier vor öffentlichen Trägern. Schon vor ihrer Verabschiedung 1961 und auch nach Inkrafttreten der Gesetze wurde erbittert um die Frage der Subsidiarität und die Stellung der kirchlichen Wohlfahrtspflege in diesem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip gerungen. Der Streit mündete in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses stellte 1967 fest, dass es dem Gesetzgeber freisteht, sein Ziel einer gerechten Sozialordnung auch mit Hilfe von privaten Wohlfahrtsorganisationen zu erreichen. Die Auseinandersetzungen über das Subsidiaritätsprinzip waren trotz des Bundesverfassungsgerichtsurteils in den folgenden Jahrzehnten nicht ausgestanden. Zugleich wandelten sich die Rahmenbedingungen: Während die kirchlichen Träger große Anstrengungen zur Professionalisierung unternahmen, geriet der bundesdeutsche Sozialstaat zunehmen in eine finanzielle Überforderungssituation. In den 1980er Jahren mündete dies in erste Überlegungen zur Ökonomisierung sozialer Leistungen. Welche Rolle das Subsidiaritätsprinzip sowohl als rechtliches, kirchenpolitisches und sozialethisches Argument in der Debatte um die Gestaltung des bundesdeutschen Sozialstaates zwischen 1949 und 1989 gespielt hat, ist in der bisherigen Forschung kaum beleuchtet worden. Insbesondere gilt dies für den Einfluss protestantischer Akteure in den geführten Diskussionen. Das Projekt will aufarbeiten, welche Bedeutung dem Protestantismus und seinen Vertretern - insbesondere seitens der kirchlichen Diakonie - im Prozess der Gestaltung des westdeutschen Sozialstaates zukam. Auf dem Prüfstand steht auch die (historische) Rezeption des Begriffs der Subsidiarität selbst.

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