Die in der evangelischen Theologie nach 1945 geführten ethischen Debatten sind weithin als gegenwartsorientierte Selbstverständigungsdebatten zu begreifen. Im Medium der ethischen Reflexion erarbeitet sich die Theologie ein Verständnis der modernen Welt und Gesellschaft; diese Deutungsarbeit wiederum steht im Dienste des Interesses, Ort und Aufgabe des Protestantismus im Horizont der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu bestimmen. Die Leitperspektive richtet ihr Augenmerk auf die in den Ansätzen und Beiträgen der theologischen Ethik hintergründig wirksamen Deutungsfiguren zum Verständnis der modernen Welt und schlüsselt diese in ihren spezifischen Motivlagen, fächerübergreifenden Verbindungslinien und inhaltlichen Verschiebungen auf.

Das Teilprojekt wird betreut von Prof. Dr. Martin Laube

Die ‚Entdeckung’ der Menschenwürde in der theologischen Ethik

Das Projekt wird bearbeitet von Lydia Lauxmann

Der Begriff der Menschenwürde gehört zu den zentralen „säkularsakralen“ Hoheitstiteln aktueller politischer, rechtlicher und ethischer Debatten. Er bildet nicht nur die oberste Fundamentalnorm des Grundgesetzes, sondern fungiert zugleich als Leitbegriff ethischer Orientierung schlechthin. Ob seiner intuitiven Evidenz und inhaltlichen Offenheit genießt er allgemeine Akzeptanz und ist – als griffige Symbolchiffre des bundesdeutschen „Verfassungspatriotismus“ – zu einem universalkonsensfähigen Integrationsbegriff mit gleichsam „zivilreligiöser Bedeutung“ aufgestiegen.

Auch in Theologie und Kirche hat sich die Menschenwürde als unumstrittene Leitkategorie ethischer Orientierung durchgesetzt. Exemplarisch dafür stehen etwa die ökumenisch grundierte Debatte um die Menschenrechte oder die Neuformatierung der politischen Ethik im Zeichen des Verfassungsrechts und der Demokratiedenkschrift. Daneben wird vor allem auf dem weiten Feld der Bio- und Medizinethik die – in der Gottebenbildlichkeit begründete – Menschenwürde als Inbegriff und Höchstwert christlicher Ethik zur Geltung gebracht.

Es ist schon häufiger notiert worden, dass die Karriere des Menschenwürdegedankens nach 1945 in der evangelischen Theologie erst allmählich und spät einsetzt. Eine selbständige Untersuchung der eigentümlichen Rezeptionsgeschichte fehlt jedoch bislang. Diese Forschungslücke soll mit dem Projekt geschlossen werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, in welchen Debattenzusammenhängen und auf welchen unterschiedlichen „Pfaden“ der Begriff der Menschenwürde in der evangelisch-theologischen Ethik aufgenommen und aktiviert wird. Im Horizont des Teilprojekts „Die bundesrepublikanische Gesellschaft im Spiegel der theologischen Ethik“ richtet sich das Interesse darauf, welche Gesellschaftsdeutung sich hinter der theologischen Rezeption des Menschenwürdebegriffs verbirgt.

Der protestantische Streit um den status confessionis

Das Projekt wird bearbeitet von Nicolas Keitel

Das zweite Unterprojekt widmet sich dem protestantischen Streit um den status confessionis. Zu den charakteristischen Kennzeichen des Protestantismus in der „alten“ Bundesrepublik gehört der auffällige Umstand, dass die großen ethischen Debatten innerhalb des Protestantismus selbst noch einmal abgebildet und dort zwischen den verschiedenen Traditionen, Lagern und Richtungen ausgetragen werden. Es handelt sich um überaus erbittert geführte Auseinandersetzungen, die ihre eigentümliche Schärfe nicht zuletzt aus der Erwartung beziehen, dass angesichts der je aktuellen und drängenden Situation die evangelische Christenheit zu einem ebenso eindeutigen wie einmütigen Zeugnis aufgefordert sei. Die Erklärung des status confessionis – des Bekenntnisfalls – gehört zu den schärfsten Waffen im innerprotestantischen Richtungsstreit.

In der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik ist sie dreimal gezückt worden: in der Auseinandersetzung um die atomare Bewaffnung 1958, in der Frage der Stellung zum Apartheids-System in Südafrika 1977 sowie in der Friedensdebatte um den NATO-Doppelbeschluss 1982. In allen drei Fällen haben sich an der Ausrufung des status confessionis heftige Kontroversen entzündet, die sich nicht nur auf die ethischen „Primärdebatten“ bezogen. Vielmehr löste der im Verlauf einer ethischen Kontroverse erklärte status confessionis im Protestantismus selbst wieder eine intensiv, ja leidenschaftlich geführte Kontroverse über dessen Legitimität und Tragweite aus. Die Debatten sind bisher in keiner Weise aufgearbeitet worden.

Das Projekt stellt sich die Aufgabe, die in die genannten ethischen „Primärdebatten“ eingewobenen „Sekundärdebatten“ um die Legitimität und die Zielrichtung eines christlichen Bekenntnisnotstandes herauszuschälen und daraufhin zu befragen, welche Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Rolle und Aufgabe des Protestantismus darin zum Austrag kommen.

Die theologische Auseinandersetzung mit dem Marxismus in den 1950iger und 1960iger Jahren (abgeschlossen)

Das Projekt wurde bearbeitet von Katja Bruns

Eine der wesentlichen Selbstversicherungsdebatten des bundesdeutschen Nachkriegsprotestantismus ist im Bereich der Auseinandersetzung mit dem Marxismus geführt worden. Dieser Debatte soll im Rahmen des Projekts nachgegangen werden, denn über die Diskussion, Kritik und Antikritik marxistischer Ansätze sind zentrale geschichtsphilosophische und sozialtheoretische Themen innerhalb der akademischen Theologie in einem ausgesprochen interdisziplinären Rahmen seit dem Beginn der 1950iger Jahre verhandelt worden. Darüber war es einerseits möglich, an wichtigen Punkten eine zunächst rückwärtsgewandte Kritik sozialethischer Modelle der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu ermöglichen. Anderseits zwang die empfundene Dringlichkeit der bestehenden Systemkonkurrenz mit der DDR zu einer produktiven Dynamik im Bezug auf gegenwartsrelevante Standortbestimmungen des Protestantismus zu gesellschaftlichen Fragen im politischen Rahmen der jungen Demokratie.

Dabei geht das Projekt davon aus, dass diese Debatte eine spezifische Signatur aufweist, die sich in vier Bereichen nachzeichnen lässt:

Zum einen soll die Wirkungsgeschichte des religiösen Sozialismus in der Bundesrepublik über ihr Einwirken auf gesellschafts- und wirtschaftspolitische Debatten der Nachkriegszeit sowie ihre Anstöße für die Nachjustierung des Verhältnisses der Kirche zum Sozialismus bearbeitet werden. Hier stehen vor allem der in institutioneller Kontinuität stehende und 1948 wiedergegründete ‚Bund religiöser Sozialisten‘ und seine Publikationsorgane, sowie die theologischen Impulse Paul Tillichs sowie Heinz-Dietrich Wendlands im Mittelpunkt.

Zum anderen soll den Anstößen, die die bundesrepublikanische Debatte aus den in der Ökumene seit Amsterdam 1948 entwickelten Impulsen zu einem Dialog zwischen Christentum und Marxismus empfangen hat, nachgegangen werden. Auch hier ist zu vermuten, dass zunächst der Blick zurück auf gesellschafts- und politiktheoretische Leitvorstellungen der Zwischenkriegszeit die Debatte in Gang gesetzt hat und dass diese dann durch den Ost-West-Konflikt strukturiert und vor diesem Hintergrund geführt worden ist. Einen wichtigen Impuls stellen dann die seit den 1960iger Jahren institutionalisierten ‚Dialoge‘ zwischen Christentum und Marxismus dar. Gleichzeitig wird zu untersuchen sein, ob und wie diese ersten Impulse zunehmend durch neuere Fragen nach globaler Gerechtigkeit im Zuge des neuen Spannungsfeldes Nord-Süd abgelöst bzw. transformiert worden sind. Auch soll in diesem Zusammenhang die Frage nach einer ‚Theologie der Revolution‘ (Richard Shaull) sowie ihre Wirkungsgeschichte auf und im bundesrepublikanischen Protestantismus darstellt werden.

Ein dritter Teil soll dann der Marxismuskommission der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt) gewidmet sein, die angesichts des kalten Krieges seit 1952 nach Möglichkeiten der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und nach einer tragfähigen Gesprächsgrundlage zwischen Christentum und Marxismus suchte. Die Marxismuskommission war ausgesprochen interdisziplinär besetzt, neben Theologen waren vor allem Philosophen, Politikwissenschaftler, Historiker und Sozialwissenschaftler an der Arbeit in der Kommission beteiligt. Somit ist hier auch den Fragen nachzugehen, wie sich über die geschichtsphilosophischen Diskussionen und gesellschaftstheoretischen Debatten eine Standortbestimmung der Kirche in der Gesellschaft sowie der Theologie innerhalb des Kanons der wissenschaftlichen Disziplinen vollzog.

Dieses Set soll komplettiert werden mit einem Durchgang durch die Positionen ‚linksprotestantischer‘ Theologen im Anschluss an Karl Barth, wie etwa Joachim Iwand, Walter Kreck, Helmut Gollwitzer und Ernst Wolf, die alle in unterschiedlicher Intensität die theologische Auseinandersetzung mit dem Marxismus geführt haben. Auch Jürgen Moltmann ist sicherlich mit seiner 1964 erschienenen ‚Theologie der Hoffnung‘ hinzuzuzählen.

Das evangelische Staatsverständnis im Spiegel ethischer Entwürfe der 1950er und 1960er Jahre (abgeschlossen)

Das Projekt wurde bearbeitet von Georg Kalinna

Unter dem Eindruck der veränderten politisch- gesellschaftlichen Wirklichkeit der frühen Bundesrepublik finden mühsame und tiefgreifende Neuorientierungsprozesse im evangelischen Staatsverständnis statt. Ziel der Arbeit ist es, diese bislang vernachlässigten Neuorientierungsprozesse anhand ausgearbeiteter sozialethischer Entwürfe der 50er und 60er Jahre nachzuzeichnen. Die grundlegende Frage ist: Wie versteht die bundesrepublikanische Sozialethik der Nachkriegszeit die Demokratie des Grundgesetzes?

Da die Neuorientierungsprozesse im evangelischen Staatsverständnis der frühen Bundesrepublik Teil der Lebenswirklichkeit der 50er und 60er Jahre sind, ist zu untersuchen, welche Einflüsse aus dem Bereich des sozialen, kulturellen oder politischen Lebens auf die sozialethische Theoriebildung auszumachen sind. Die Untersuchung ist der Versuch einer Alternative zu der theologiegeschichtlichen Erzählung, wonach das protestantisch-theologische Staatsverständnis der Nachkriegszeit lediglich eine defizitäre Vorgeschichte zur Demokratiedenkschrift von 1985 ist. Diesem Narrativ zufolge sind die theologischen Staatsdeutungen der 1950er und 1960er Jahre pluralismus- und demokratiefeindlich. Erst 1985 habe die protestantische Theologie durch die Demokratiedenkschrift mit der Staatsform der Demokratie „ihren Frieden“ gemacht. Es soll gezeigt werden, dass sich bei dieser Art von Theologiegeschichte mindestens zwei Elemente ausmachen lassen, die den Eigenwert und die Komplexität dieser Debatten vernachlässigen und damit Theoriepotentiale für die heutige Zeit verspielen.

Die erste Verkürzung besteht darin, dass man dem theologischen Schrifttum der Nachkriegszeit vorwirft, es habe das Phänomen des pluralistisch verfassten, liberalen Rechtsstaates nicht hinreichend erfasst. Eine solche Einordnung operiert explizit oder implizit mit der Annahme, dass es sich bei den sozialethischen Debatten um demokratie- oder staatstheoretische Debatten handle. Demgegenüber empfiehlt es sich methodisch, die dogmatischen und (sozial-)ethischen Deutungsmuster zunächst einmal als das anzusehen, was sie unbestreitbar sind: Kommunikation in einem theologischen Kontext. Eine zweite Verkürzung kann darin gesehen werden, dass man den sozialethischen Entwürfen der 50er und 60er Jahre vorwirft, dass sie Begriffe und Figuren benutzen, die als solche bereits ungeeignet sind, die moderne Wirklichkeit zu erfassen. Dagegen soll die These in Anschlag gebracht werden, dass sich Wandel von Normen nur innerhalb von gegebenen Sprachsystemen abspielen kann. Eine weitere Kontextualisierung des bundesrepublikanischen Protestantismus in die Sprachkonventionen der Nachkriegsgesellschaft muss zeigen, inwiefern die theologischen Deutungsmuster hiervon abweichen. Als Hintergrundfolie für den Demokratiebegriff dient insbesondere der Stand der damaligen rechtswissenschaftlichen Debatte um Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Vor diesem Hintergrund soll gezeigt werden, dass es unter den theologisch-sozialethischen Entwürfen weitreichende Gemeinsamkeiten gibt, die sich nicht mit dem Schema "Barthianer" vs. "Lutheraner" fassen lassen, sowie Unterschiede, die sich mithilfe dieses Verfahrens besser voneinander abheben lassen.

Als Fallbeispiel für die Untersuchung dient die sog. "Obrigkeitsdebatte" (1959-1960), bei der sich vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts die unterschiedlichen Ansichten zur theologischen Staatsdeutung konkret niedergeschlagen haben.

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